Zusammenfassung
- Die Autonomen definieren sich, wie ihr Name schon sagt, aus einer organisatorischen Unabhängigkeit. Das heißt, sie grenzen sich von den bürokratischen Vereinigungen wie Parteien und Gewerkschaften ebenso ab wie von staatlichen Einrichtungen.
- Neben der Unabhängigkeit, gibt es keine klare zugeordnete Ideologie. Vielmehr identifizieren sich Autonome durch ihr Handeln als durch ideologische Überlegungen.
- Politik wird als eigene Handlung definiert und kann nicht nur durch gewählte Repräsentant*innen ausgeführt werden.
- Militanz wird geduldet, da durch die „nötige“ Gewalt heute, das Ziel einer Gewaltfreien Gesellschaft erreicht werden soll.
Begriff
Autonomie avancierte in den 1970er Jahren zum zentralen Leitbegriff im undogmatischen Lager des linksradikalen Spektrums. Autonomie verweist auf Immanuel Kants Begriffsprägung individueller (vernunftgeleiteter) Selbstbestimmung.[1] In der Tradition der italienischen Autonomia-Bewegungen[2] steht der Begriff für organisatorische Unabhängigkeit vor allem von bürokratischen (marxistischen) Partei- und Gewerkschaftsapparaten sowie den Institutionen des Staates.[3]
Genese
Die kollektive Identität als Bewegung der Autonomen evolvierte in fließenden Formierungsprozessen, die ihren Ursprung im linksradikalen Milieu der Sponti- und Alternativbewegungen haben.[4] Zwar agierten schon Ende der 1970er Jahre vereinzelt militant autonome Gruppen im Kontext der Anti-AKW-Proteste. Aber erst zu Beginn der 1980er Jahre mehrten sich „den Autonomen“ zugeschriebene Aktivitäten, etwa bei den gewaltsamen Protesten gegen ein öffentliches Rekrutengelöbnis im Bremer Weserstadion oder im Rahmen der Hausbesetzungswelle 1980/81.[5] Zu diesem Zeitpunkt entstanden auch erste Selbstverständigungstexte einer „Autonomen Bewegung“[6], die seitdem den undogmatischen Linksradikalismus in der Bundesrepublik prägen.
Bewegung, Subkultur und Szene
Es gibt in der sozialwissenschaftlichen Literatur wie auch in der radikalen Linken selbst drei zentrale, allerdinge keinesfalls trennscharf verwendete Begriffe, das facettenreiche Phänomen der Autonomen analytisch zu erfassen: Bewegung, Subkultur und Szene. Sie bilden als soziale Bewegung „ein informelles Netzwerk dicht miteinander verknüpfter Gruppen und Personen, die ein Set gemeinsamer Überzeugungen teilen und im Rahmen konflikthafter Mobilisierungen versuchen, gesellschaftlichen Wandel mithilfe variabler Formen des Protests herbeizuführen.“[7] Allerdings stellten die Autonomen durch die fehlende thematische Fokussiertheit einen Sonderfall im Kanon der bekanntesten sozialen Bewegungen dar.[8] Die Begriffe Subkultur und Szene verweisen auf die autonome Identität, die bestimmt ist durch eine spezifische Gestaltung der individuellen, bis ins Private hinein geprägten Lebenswelt mit ganz eigenen Moralvorstellungen, symbolischen Stilen, Codes und Ritualen.[9] Die Begriffe eröffnen den Blick auf lokale autonome Infrastrukturen von Info- und Buchläden, Kneipen, Zentren und besetzten Häusern.[10]
Ideenwelt
Die sich in vielen Aspekten als Erben der Spontis[11] betrachtenden Autonomen schreiben deren seit Mitte der siebziger Jahre verstärkten Trend zur Subkulturalisierung, Subjektivierung und Privatisierung („Das Private ist politisch“) linksradikaler Politik fort. Eigenverantwortlichkeit, darin zeigen sich libertäre Einflüsse, und Selbstbestimmung werden große Bedeutung beigemessen. Hohe moralische Anforderungen werden an die Fortentwicklung der eigenen Persönlichkeit und die bewusste Gestaltung des Alltags gestellt. Die Trennung von privater und politischer Sphäre gilt als aufgehoben. Hinter der Formel „Politik der ersten Person“ verbirgt sich die Vorstellung, subjektive Bedürfnisse zum Ausgangspunkt für politisches Handeln zu nehmen, ferner die Ablehnung von Stellvertretern und Repräsentanten der eigenen Politik. Mit den späten Spontis teilen sie auch den Abschied vom Industriearbeiter als revolutionärem Subjekt. Anarchistisches Denken bestimmt die Ideenwelt der Autonomen insofern, als dass kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, der „bürgerliche“ Staat sowie seine Institutionen und Repräsentanten zentrale Feindbilder darstellen. Und obwohl der Dialog mit „den Herrschenden“ abgelehnt wird[12], sollen diesen durch kontinuierliche Kämpfe Verbesserungen der eigenen Situation abgerungen werden. Wobei das Kämpfen mit dem Horizont „systemübergreifender Ziele“ selbst wichtiger sei als das Erreichen von Verbesserungen, denn der „Weg, die Art und Weise unserer Kämpfe ist das Ziel.“[13] Weder über die Ausgestaltung der Zukunftsgesellschaft noch über den Transformationsprozess besteht indes theoretische oder auch nur konzeptionelle Klarheit bei den Autonomen. Zwar schöpfen sie in eklektischer Weise aus dem reichen Fundus anarchistischer und neomarxistischer Theorie, stellen aber ein überwiegend theorieaverses Phänomen dar, das primär mit dem konkreten Handeln, mit der Tat apostrophiert wird.
Aktionsfelder und Militanz
Die von Bekämpfungs- und Abwehrprojekten gegen die selbst empfundenen Unterdrückungs- und Herrschaftsverhältnisse dominierten, zyklisch wiederkehrenden Themen autonomer Politik sind: Anti-AKW-Protest, -militarismus, -faschismus, -Sexismus, -Rassismus, -Repressions-Protest, -imperialismus (darunter: Anti-Wirtschaftsgipfel- bzw. später Anti-Globalisierungsproteste), Protest gegen Gefängnisse und Anti-Gentrifizierungsproteste. Mit dem Kampf um „Freiräume“ als „Ausgangsbasis, um den Staat und das System zu stürzen“[14], sei es in besetzten Häusern, autonomen (Jugend-)Zentren oder zur Unterstützung von Geflüchteten, lassen sich jedoch auch positiv bestimmbare Nahziele beobachten. In der breiteren Öffentlichkeit werden Autonome vornehmlich mit Gewaltdelikten assoziiert, die regelmäßig Schlagzeilen garantieren. In Selbstreflexionen autonomer Aktivitäten haben Diskussionen über „Militanz“ eine fortwährende Präsenz[15], wobei zu beobachten ist, dass der Militanzbegriff der Autonomen zwischen zwei Bedeutungsebenen oszilliert: Während Militanz einerseits schlicht als Synonym für Gewalt stehen kann, kann andererseits auch ein spezifischer Gestus, der eine kämpferische Haltung zum Ausdruck bringt, gemeint sein.[16] In jedem Fall ist Militanz positiv besetzt. Die konkrete Dosierung von Gewalt im Kampf gegen Staat, Kapital und extreme Rechte ist indes Gegenstand von Debatten und unterliegt einem Rechtfertigungszwang – schließlich wird die Auffassung vertreten, bei der eigenen Gewaltausübung handele es sich um Gegengewalt gegen die strukturelle Gewaltsamkeit des Systems, die einem im Streben nach einer gewaltfreien Zukunftsgesellschaft aufgezwungen werde. Ein Bewegungskonsens besteht darin, bestimmte Gewaltschwellen nicht zu überschritten. In der Gewaltbilanz fallen auch Sachbeschädigungen und Konfrontationsgewalt gegen Polizei und die extreme Rechte im Zusammenhang von Eskalationsdynamiken auf Demonstrationen neben klandestinen Sabotageaktivitäten quantitativ besonders ins Gewicht.[17]
Die auf Öffentlichkeit abzielenden militanten Aktionen sind überwiegend symbolischen Charakters und erfüllen die wichtige Funktion der Identitätsbildung und Selbstermächtigung. Die rituellen Praktiken des sogenannten Schwarzen Blocks, der homogen schwarz gekleideten und vermummten Demonstrationsavantgarde, sind gleichermaßen ganz pragmatisch Schutz vor Tränengas und Strafverfolgung sowie Mittel der Inszenierung von Widerständigkeit, symbolischer Systemfeindschaft und Stärke.[18]
Infrastruktur und Organisationsformen
Lokale links-alternativer Szenen verfügen über eine vielfältige Infrastruktur. Durch selbstverwaltete Szenekneipen und Jugendzentren, linke Buch- und Infoläden und Wohnprojekte wird die netzwerkartige autonome Bewegungsstruktur ebenso aufrecht erhalten wie (früher) durch die Zeitschriften radikal oder interim, die heute überwiegend durch Onlinepublikationen und -plattformen abgelöst wurden.
Gruppenaktivitäten ergeben sich häufig im Zusammenhang mit thematischen Fokussierungen wie paradigmatisch im autonomen Antifaschismus; die Gruppen agieren konspirativ, allein vertrauensvolle persönliche Bekanntschaften bzw. Freundschaften ermöglichen die Kontaktaufnahme. Die Koordinierung der unterschiedlichen Gruppen einer Stadt erfolgt – wenn sie denn stattfindet – in gruppenübergreifenden Plena. Regional und überregional werden unregelmäßig Kongresse zur Vorbereitung von Kampagnen oder zur Selbstvergewisserung veranstaltet.[19]
In ihrer Entstehungsphase grenzten sich die Autonomen im linksradikalen Spektrum nach zwei Seiten besonders ab. Einerseits gegenüber der Alternativbewegung, die in ebendieser Zeit in der grünen Partei einen Weg fand, ihre Interessen innerhalb des bestehenden Systems durchzusetzen. Andererseits gegenüber den streng hierarchisch organisierten, dogmatischen K-Gruppen.[20] Insbesondere diese stellen auch nach Jahrzehnten noch die organisationspolitische Negativfolie schlechthin dar, von der sich jede Form der Institutionalisierung kollektiven Handelns zu unterscheiden habe.[21]
Im Rahmen von Selbstreflexions- und vor allem Organisationsdebatten in den 1990er Jahren wurden grundlegende Prinzipien der Autonomen infrage gestellt. Für die Bezeichnung von Transformationsprozessen in den Bereichen Organisationskultur, Bündnispolitik, Protestpraxis und Theorierezeption hat sich der Begriff Postautonomie durchgesetzt.
Die Autoren
Alexander Deycke
Anmerkungen
[1] Vgl. George Katsiaficas, The Subversion of Politics, European Autonomous Social Movements and the Decolonization of Everyday Life, Oakland 2006, S. 6f.
[2] In den 1960er Jahren opponierten in Italien zumeist ungelernte Fabrikarbeiter gegen die Bevormundung durch die Kommunistische Partei Italiens und die durch sie dominierten Gewerkschaften. In wilden Streiks und Sabotageaktionen begehrten sie gegen Lohnunterschiede und die tayloristische Modernisierung der industriellen Fabrikproduktion auf. Daran anknüpfend traten im darauffolgenden Jahrzehnt eine „Autonomia operaia“ (Arbeiterautonomie) und eine „Autonomia creativa“, eine im gesellschaftlichen Reproduktionsbereich agierende und gegenkulturell ausgerichtete Bewegung, auf den Plan. Deren Träger waren nicht länger „die Fabrikarbeiter, sondern […] das marginale Proletariat von Studenten, jugendlichen Arbeitslosen, prekär Beschäftigten und alten politischen Kernen der Autonomia aus den 60er Jahren.“ Geronimo, Feuer und Flamme. Zur Geschichte der Autonomen, Berlin 1995, S. 43. Im Wechselspiel gegenseitiger Inspiration zwischen der Praxis der sozialen Bewegungen und deren intellektueller Reflexion entstanden die neomarxistischen Theorien des Operaismus und, auf diesen aufbauend, des Postoperaismus.
[3] Vgl. etwa die Beispiele autonomen Engagements auf dem Protestfeld des Häuserkampfes bei Hans Pruijt und Conny Roggeband, “Autonomous and/or Institutionalized Social Movements? Conceptual Clarifications and Illustrative Cases”, in: International Journal of Comparative Sociology, 2/2014, S. 144–165.
[4] Vgl. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 135.
[5] Vgl. Bart van der Steen et al., Introduction. Squatting and Autonmous Action in Europe, 1980-2012, in: dies. (Hg.), The City is Ours. Squatting and Autonomous Movements in Europe from the 1970s to the Present, Oakland 2014, S. 1-20; A.G. Grauwacke, Autonome in Bewegung. Aus den ersten 23 Jahren, Berlin 2008, S. 11–87; Geronimo, Feuer und Flamme, Zur Geschichte und Gegenwart der Autonomen, Berlin 1990, S. 92–122.
[6] Vgl. „Thesen zur autonomen Bewegung“ in: Kongreßlesebuchgruppe (Hg.), Der Stand der Bewegung. 18 Gespräche über linksradikale Politik. Lesebuch zum Autonomie Kongreß Ostern 1995, Berlin 1995, S. 274ff.
[7] Sebastian Haunss, Die Autonomen – eine soziale Bewegung zwischen radikaler Gesellschaftskritik und Subjektivismus, in: René Schultens u. Michaela Glaser (Hg.), ,Linke Militanz‘ im Jugendalter. Befunde zu einem umstrittenen Phänomen, DJI, Halle (Saale) 2013, S. 26–46, hier S. 30.
[8] Vgl. ebd.
[9] Vgl. Jan Schwarzmeier, Die Autonomen. Zwischen Subkultur und sozialer Bewegung, Göttingen 1999.
[10] Eine detaillierte, differenzierte Diskussion verschiedener sozialwissenschaftlicher Konzepte von sozialer Bewegung, Subkultur und Szene findet sich bei Sebastian Haunss, Identität in Bewegung. Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung, Wiesbaden 2004, S. 79–90.
[11] Die Bezeichnung „Sponti“ war zunächst „eine unter den K-Gruppen verbreitete abwertende Bezeichnung für Gruppen, welche Parteikonzepte ablehnten und damit aus der Sicht der Marxisten-Leninisten ein zu großes Vertrauen auf die Spontaneität der Massen setzten.“ In einer „ironischen Selbstadaption“ (Wolfgang Kraushaar) übernahmen die Geschmähten den Begriff. Sebastian Kasper, Das Ende der Utopien. Der Wandel der Spontis in den langen 1970er-Jahren, Freiburg 2018, S. 47, URL: https://freidok.uni-freiburg.de/fedora/objects/freidok:15229/datastreams/FILE1/content [eingesehen am 10.07.2019].
[12] AK Wantok, Perspektiven autonomer Politik, Münster 2010, Einleitung, S. 10.
[13] Ebd.
[14] AK Wantok, Einleitung, S. 11.
[15] Vgl. Haunss, Identität in Bewegung, S. 121ff. u. S. 169ff.
[16] Vgl. A.G. Grauwacke, Autonome in Bewegung, S. 403; Klaus Viehmann, Militanz, in: Ulrich Brand u.a. (Hg.), ABC der Alternativen 2.0. Von Alltagskultur bis Zivilgesellschaft, Hamburg 2012, S. 168f.
[17] Vgl. Matthias Mletzko, Gewalthandeln linker und rechter militanter Szenen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 44/2010, S. 9–16.
[18] Vgl. Rainer Paris, Vermummung, in: Leviathan, Jg. 19 (1991), H. 1, S. 117–129.
[19] Vgl. Haunss, Die Autonomen, S. 29.
[20] Vgl. Haunss, Die Autonomen, S. 27.
[21] DASN, Teil einer Jugendbewegung sein; o.V., IL im Aufbruch – ein Zwischenstandspapier, Broschüre 2014, S. 15, URL: http://fels.nadir.org/multi_files/fels/il-zsp-1c-32s-a5-sm.pdf [eingesehen am 18.07.2019].